| Knapp 70 Jahre gelebte Einwanderungsgeschichte |
Am 20. Dezember 1955 wurde das Anwerbeabkommen mit Italien unterzeichnet. Fast sieben Jahrzehnte später ist das ein guter Moment, um zurückzublicken – und zu erzählen, welche Bedeutung dieser historische Schritt für unser Land und auch für mich persönlich hat.
Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Deutschland einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung, doch es fehlten Arbeitskräfte. Italien wiederum war vor allem im Süden von hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Das Anwerbeabkommen sollte beiden Seiten nützen – und wurde zum Auftakt einer beispiellosen Migrationsgeschichte.
1956 kamen die ersten 12.000 italienischen Gastarbeiter in die Bundesrepublik, in den folgenden Jahren folgten Millionen Menschen aus weiteren Ländern. Abkommen mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961) sowie mit Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien prägten die 1960er Jahre. Bis 1973 kamen rund 14 Millionen Menschen zum Arbeiten nach Deutschland. Viele kehrten später zurück – aber viele sind geblieben und haben hier eine neue Heimat gefunden.
Auch die Geschichte meiner Familie ist Teil dieser Entwicklung. Mein Vater kam im Zuge des Anwerbeabkommens mit der Türkei kurz nach meiner Geburt nach Deutschland. In seiner Heimat Anatolien herrschte damals große Arbeitslosigkeit. Deutschland stand für ihn – wie für so viele – für die Hoffnung auf ein besseres Leben und die Möglichkeit, die eigene Familie zu unterstützen. Also machte auch er sich auf den Weg.
Die Realität in Deutschland war für viele Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter jedoch härter, als sie es sich erträumt hatten: Schwerstarbeit, niedrige Löhne, beengte Unterkünfte. Von „Gästen“ konnte im Alltag oft keine Rede sein. Viele mussten sich zudem gegen Vorurteile, Ablehnung und offenen Rassismus behaupten.
Als ich acht Jahre später im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland kam, habe ich diesen Rassismus selbst erlebt. Parolen wie „Ausländer raus“ an Häuserfassaden gehörten damals leider zum Straßenbild. Und dennoch: Es gab auch viele Menschen, die uns mit offenen Armen empfangen haben. Deutschland hat mir ermöglicht, mir in meiner neuen Heimat Nürnberg ein gutes Leben aufzubauen.
Dafür bin ich dankbar – und genau deshalb möchte ich etwas zurückgeben. Im Bayerischen Landtag setze ich mich dafür ein, das Leben für alle Bürgerinnen und Bürger ein Stück besser zu machen – unabhängig davon, ob ihre Wurzeln seit Generationen hier liegen oder sie selbst oder ihre Eltern einst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind.
Die Anwerbeabkommen und die Menschen, die damals ihre Heimat verlassen haben, haben unser Land entscheidend vorangebracht – wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell. Sie verdienen unseren Respekt, unseren Dank und unsere Anerkennung. Umso mehr schmerzt es mich, dass ihre Leistung bis heute von einem Teil der Gesellschaft kleingeredet wird und viele weiterhin Diskriminierung erfahren.
Kommentare wie die „Stadtbild“-Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz empfinde ich als respektlos gegenüber einer Generation, die so viel für unser Land geleistet hat.
Eines ist mir wichtig: Die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und ihre Familien haben meinen vollen Respekt – damals wie heute. Ohne sie wäre Deutschland nicht das Land, in dem wir heute leben.
